MecWorm: Eine künstliche Raupe imitiert Insektenfraß bei Pflanzen

Forschungsbericht (importiert) 2005 - Max-Planck-Institut für chemische Ökologie

Autoren
Mithöfer, Axel; Kunert, Maritta; Boland, Wilhelm
Abteilungen
Bioorganische Chemie (Prof. Dr. Wilhelm Boland)
MPI für chemische Ökologie, Jena
Zusammenfassung
Insektenfraß löst die Synthese von Duftstoffen als indirekte pflanzliche Abwehr gegen herbivore Insekten aus. Mittels der künstlichen Raupe MecWorm war es am MPI für Chemische Ökologie, Abteilung Bioorganische Chemie, erstmals möglich, die Bedeutung rein mechanischer Verwundung und chemischer Signalstoffe aus dem Raupenspeichel bei der Induktion dieser Duftstoffe getrennt zu analysieren. Untersuchungen an der Limabohne zeigten, dass allein eine kontinuierliche, lang anhaltende Verletzung des Pflanzengewebes ausreicht, um Insektenbefall-ähnliche Duftstoffsynthesen und -emissionen auszulösen. Des Weiteren wurden Studien zur Genregulation unter Einfluss von Insektenfraß im Vergleich zu MecWorm durchgeführt, wobei als Testpflanze Arabidopsis thaliana diente. Gemessen wurden Änderungen der jeweiligen Transkriptionsmuster, sowohl lokal im verletzten bzw. befallenen Blatt als auch systemisch, d. h. in nicht attackierten Blättern derselben Pflanze. Erste Analysen von Raupen- bzw. MecWorm-befallenen Blättern offenbarten jeweils lokal eine signifikante Änderung der Transkriptmenge bei circa 5700 Genen, wobei davon etwa 4100 Gene identisch durch rein mechanische Verwundung reguliert werden. Die systemische Reaktion der Pflanze zeigte darüber hinaus, dass mehr als 3200 Gene durch die Chemie der Speichelkomponenten maßgeblich beeinflusst werden.

Pflanzen sind bei weitem nicht so wehrlos, wie sie auf den ersten Blick erscheinen, obwohl sie zum allergrößten Teil ortsgebunden sind und daher drohenden Umweltveränderungen oder Gefahren nicht davonlaufen können. Sie haben im Laufe ihrer Evolution eine enorme genetische und metabolische Plastizität entwickelt, mit der sie sich auf diverse, schnell wechselnde Umwelteinflüsse einstellen. Solche Einflüsse können sowohl abiotischer Natur sein – wie beispielsweise Hitze, Kälte, UV-Belastung oder Wasserstress – als auch biotischer Natur, was die Interaktionen mit allen anderen Lebewesen umfasst. Neben den für die Pflanzen positiven, symbiontischen Wechselwirkungen, wie zum Beispiel der Mykorrhiza, die Pilz und Wurzeln gleichermaßen nutzt, stehen sie einer Reihe von Schadorganismen gegenüber: von pathogenen Bakterien, Oomyceten und Pilzen bis hin zu pflanzenfressenden (herbivoren) Tieren, insbesondere Insekten.

Abwehrstrategien von Pflanzen

Gegen jedwede Art von Aggressoren müssen sich die angegriffenen Pflanzen verteidigen. So sind die meisten Pflanzen mit physikalischen Barrieren, zum Beispiel mit primären und sekundären Abschlussgeweben oder chemischen Abwehrstoffen wie Gerbstoffen, Phenolen oder Lignin ausgestattet. Diesen konstitutiv vorhandenen Schutzmechanismen kann man die induzierbaren Abwehrmechanismen gegenüberstellen, die erst bei akutem Befall der Pflanze – z. B. durch Pathogene – auftreten. Auch hier lassen sich die gerade genannten Haupttypen einer Abwehr unterscheiden: zum einen die Verstärkung der physikalischen Barriere im Zellwandbereich durch Neusynthese von Kallose oder Lignin, zum anderen die Induktion oder Aktivierung vorher nicht ausgeprägter Stoffwechselleistungen. Diese sind lokal auf den Infektionsort begrenzt und führen letztlich dazu, dass das eindringende Pathogen isoliert und abgetötet wird. In den umgebenden Zellen werden darüber hinaus antimikrobielle Wirkstoffe, Schreckstoffe, Proteaseinhibitoren und Ähnliches gebildet und akkumuliert, die die Ausbreitung des Aggressors bzw. Sekundärinfektionen verhindern. Diese lokal begrenzten Abwehrmechanismen werden in vielen Fällen durch die in der gesamten Pflanze etablierte systemisch erworbene Resistenz ergänzt: ein Mechanismus, der Folgeinfektionen verhindern soll.

Eine etwas „subtilere“, aber nicht weniger effiziente Abwehrstrategie haben viele höhere Pflanzen gegen Fraßfeinde entwickelt. Bei diesen Herbivoren handelt es sich vornehmlich um Arthropoden, das heißt Insekten und Spinnmilben. Wenn sie Pflanzen anfressen, wird zusätzlich eine indirekte Form der Abwehr ausgelöst: Die befallenen Pflanzen synthetisieren flüchtige niedermolekulare Verbindungen und geben sie an die Umgebung ab. Diese Duftstoffe wiederum locken dann spezifisch räuberische oder parasitoide Feinde der Herbivoren an, die gezielt zu den befallenen Pflanzen kommen und die dort fressenden Organismen dezimieren. Chemisch gesehen handelt es sich bei den freigesetzten Duftstoffen hauptsächlich um Mono-, Di- und Sesquiterpene, kurzkettige Alkohole und Aldehyde, sowie um aromatische Verbindungen (Abb. 1).

Wechselwirkungen zwischen Pflanzen und Herbivoren

Vom energetischen Standpunkt aus gesehen ist eine Induktion und Aktivierung von Abwehrmechanismen sehr aufwändig. Daher ist es für die Pflanzen essenziell, möglichst effizient unterscheiden zu können, ob tatsächlich ein Herbivor an ihren Blättern frisst oder vielleicht nur eine mechanische Verletzung durch herunterfallende Äste oder Hagelkörner vorliegt, denn: In jedem Fall erfährt die Pflanze primär eine Verwundung. Beim Herbivorenfraß kommt neben der mechanischen Verletzung ein weiterer Parameter dazu: chemische Komponenten aus dem Speichel der Pflanzenfresser. Solche Signalstoffe können von den Pflanzen erkannt werden und führen zur Induktion von Abwehrreaktionen, das heißt auch zur Freisetzung der Duftstoffe. Dieses Prinzip konnte unter anderem für Mais (Zea mays) in Zusammenhang mit der Zuckerrübeneule (Spodoptera exigua, aus der Ordnung der Schmetterlinge) nachgewiesen werden. Bei der auslösenden Signalsubstanz, dem Volicitin, handelt es sich um ein in Schmetterlingsraupen weit verbreitetes Konjugat, bestehend aus der Aminosäure Glutamin und einer modifizierten Form der Fettsäure Linolensäure. Nicht erklärt werden konnte mit diesem Modell allerdings, warum einige andere Pflanzen, wie zum Beispiel Limabohnen (Phaseolus lunatus), nicht auf Volicitin reagieren können. Trotzdem zeigen sie nach Raupen- (Baumwolleule, Spodoptera littoralis) oder sogar Schneckenfraß (Schnirkelschnecke, Cepaea hortensis) typische Duftemissionsmuster (Abb. 2).

MecWorm: Duftinduktion durch mechanische Verletzung

Um die chemischen Komponenten von der rein mechanischen Verwundung beim Fraßprozess experimentell trennen und untersuchen zu können, entwickelten die Forscher in Kooperation mit der Werkstatt der Fakultät für Physik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena eine mechanische Raupe (Abb. 3a und 3b). Diese künstliche Raupe, MecWorm genannt, besteht aus zwei sich in X- bzw. Y-Richtung bewegenden Schrittmotoren, die einen ‚Raupenkopf’ bewegen. Dieser ist mit einem kleinen Metallbolzen bestückt, der Schläge in vorher genau definierten Bereichen eines Blattes ausführen kann. Dabei können die Form, Größe, Position und Reihenfolge der ‚Fraßschäden’ festgelegt werden, ebenso wie die Dauer und Frequenz der Schädigung. Das gesamte System ist computergesteuert und garantiert somit eine hohe Reproduzierbarkeit. Das zu untersuchende Blatt kann von einer Kammer umschlossen werden, aus der die emittierten Duftstoffe durch eine Aktivkohlefalle gefiltert, angereichert und nachfolgend mit kombinierter Gaschromatographie/Massenspektroskopie identifiziert und quantifiziert werden können.

MecWorm wurde so konzipiert, dass die Pflanze kontinuierlich und über lange Zeiträume hinweg verletzt werden kann – ein Charakteristikum des natürlichen Fraßvorgangs bei Insektenbefall. Diese Fähigkeit unterscheidet MecWorm sehr wesentlich von herkömmlichen Methoden, Pflanzen zu verletzen, um experimentell Fraßverletzungen nachzuahmen. Hier werden gern kurzzeitige und/oder einmalige mechanische Verletzungen unter Verwendung von Rasierklingen, Pinzetten oder Rändelrädchen vorgenommen. Ähnlich wie bei Hagelschlag reagiert die Pflanze auf solche schnellen und einmaligen Verwundungen nicht mit der Induktion von Abwehrreaktionen, was bereits vielfach gezeigt werden konnte.

In einer Reihe von Experimenten mit MecWorm an der Limabohne stellte sich heraus, dass kurze Bolzenschläge im Abstand von zum Beispiel fünf Sekunden über einen Zeitraum von mehreren Stunden hinweg ausreichen, um Herbivorenfraß erfolgreich nachzuahmen. Nicht nur die Kinetik der Jasmonsäure-Akkumulation, eines Phytohormons, das bei der Induktion von Duftstoffen eine wichtige Rolle spielt, sondern auch die Komposition der abgegebenen Duftstoffe ist nahezu identisch (Abb. 4).

Lediglich geringfügig unterschiedliche Konzentrationen einzelner Verbindungen konnten im Vergleich zum natürlichen Fraßbefall festgestellt werden (Abb. 5). Neben der Duftstoffemission im verletzten Blatt konnte auch systemisch im gegenständigen, unverletzten Blatt die Bildung und Freisetzung einiger Duftkomponenten nachgewiesen werden. Die Menge bestimmter, vom Blatt freigesetzter Duftstoffe, wie z. B. (Z)-3-Hexenylacetat und Linalool, war außerdem nicht nur vom Zeitraum, in dem die Bolzenschläge wirkten (3 bzw. 17 Stunden), sondern auch von der Größe des verletzten Blattareals (hier ca. 300 mm2 oder 700 mm2) abhängig. Entsprechend dem Reizmengengesetz verrechnen sich hier beide relevanten Parameter, Reizdauer und Reizintensität. Das bedeutet, je länger die Verwundungszeit oder je größer der verwundete Bereich, desto mehr Duftmoleküle werden gebildet und abgegeben.

Interessanterweise unterliegen nicht alle flüchtigen Verbindungen aus dem Duftbouquet diesem Gesetz gleichermaßen. So wurde zwar eine konstante Menge an Methylsalicylat emittiert, allerdings erst, nachdem eine Reizschwelle überschritten wurde: Eine Reizantwort, die mit einer typischen Alles-oder-Nichts-Reaktion erklärt werden kann.

Insektenfraß-induzierte Duftstoffemission ist kein über einen langen Zeitraum konstantes Ereignis. Kontinuierliche Untersuchungen der Zusammensetzung des Duftstoffbouquets über mehrere Tage hinweg zeigten eine rhythmische Freisetzung, abhängig vom Tag/Nacht- bzw. hell/dunkel-Rhythmus der Pflanzen (Abb. 6a, 6b). Auffällig war, dass alle Komponenten des Duftes während der Lichtphase emittiert werden. Da die fressenden Raupen vornehmlich tagaktiv sind, wurde dieses Fraßverhalten mit MecWorm durch eine 6-stündige Bearbeitung während der Tagphase imitiert. Die Ergebnisse verdeutlichen auch hier, wie gut die mechanische Verwundung den echten Raupenfraß nachahmen kann.

MecWorm: Transkriptom-Analyse in Arabidopsis thaliana

MecWorm zeigt also, dass einige Pflanzen schon an der Art und Weise, wie ihre Blätter verletzt werden, das Vorhandensein eines Fraßfeindes erkennen können, d. h. bei diesem Vorgang der induzierten Duftstoffemission im Kontext der indirekten Verteidigung ist die Chemie des Herbivorenspeichels offensichtlich von untergeordneter Bedeutung. Dieses Ergebnis bedeutet allerdings nicht zwangsläufig, dass potenzielle Signalstoffe aus dem Raupenspeichel bei der pflanzlichen Verteidigung gegenüber Herbivoren generell keine Rolle spielen. Eine vergleichende Studie der durch MecWorm bzw. Fraß durch die Kohlmotte (Plutella xylostella) veränderten Transkriptionsmuster in Blättern der Modellpflanze Arabidopsis thaliana beweist das Gegenteil. Anhand von Mikroarrays, die das komplette Genom von A. thaliana repräsentieren, konnte gezeigt werden, dass in beiden Fällen lokal im befressenen Blatt nach neun Stunden circa 5700 Gene hoch- bzw. herrunterreguliert wurden (Abb. 7). Hiervon sind ca. 4100 Gene identisch, sie werden demnach durch MecWorm- und Kohlmottenfraß gleichermaßen angesprochen. Alle diese Gene werden augenscheinlich allein durch die mechanische Verwundung reguliert; dies ist eine viel größere Anzahl an Genen als bislang vermutet wurde. Demgegenüber stehen zwei Gruppen von jeweils ca. 1700 Genen, die spezifisch nur in der einen oder anderen Situation als unterschiedlich zum Transkriptmuster der Kontrolle detektiert werden konnten.

Drastischere Unterschiede fanden sich allerdings bei der Analyse der systemischen Reaktionen, das heißt in Blättern, die weder durch MecWorm noch durch Raupen direkt attackiert wurden. Ebenfalls nach neun Stunden wurden durch P. xylostella-Fraß mehr als 3200 Gene spezifisch reguliert, durch MecWorm aber nur circa 1450. Dies ist ein Indiz für die Präsenz weiterer Faktoren, die beim Insektenfraß zusätzlich von der befallenen Pflanze erkannt werden und nachfolgend entsprechende Reaktionen induzieren können. Da sich wie beschrieben gezeigt hatte, dass MecWorm den mechanischen Anteil beim Raupenfraß sehr gut imitieren kann, liegt somit die Schlussfolgerung nahe, dass nur noch die im Speichel der Insekten vorhandenen Signalstoffe eine zentrale Rolle für die „Reizweiterleitung“ vom Ort der Attacke in alle Pflanzenteile hinein spielen. Eine Untersuchung von Raupenspeichel und die Identifizierung der verschiedenen darin enthaltenen chemischen Verbindungen in Kombination mit der Bestimmung ihrer biologischen Relevanz wird der nächste Schritt sein, die Rolle der Speichelchemie in dieser Insekt-Pflanze-Interaktion zu verstehen. Eine konsequente technische Weiterentwicklung von MecWorm, um Raupenspeichel bzw. einzelne Komponenten davon im Picoliter-Maßstab parallel zur mechanischen Verletzung exogen hinzuzufügen, wird es zukünftig ermöglichen, den gesamten Fraßprozess komplett nachzuahmen und somit die dadurch induzierten Reaktionen der Pflanzen im Detail zu analysieren und zu verstehen.

Originalveröffentlichungen

1.
A. Mithöfer, G. Wanner, W. Boland:
Effects of feeding Spodoptera littoralis on lima bean leaves. Continuous mechanical wounding.
Plant Physiology 137, 1160-1168 (2005).
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